Libreria delle donne di Milano

Philosophie der Daseinskompetenz

Referat für die Tagung “Perspektivenwechsel” der Lehrkräfte für Textilarbeit/Werken und Hauswirtschaft am 4. November 2000 im Seminar Kreuzlingen
Von Ina Praetorius

Kennen Sie die Novelle “Das Fähnlein der sieben Aufrechten” von Gottfried Keller? Diese Geschichte mag ich sehr. Sie ist nur auf den ersten Blick treubrav-patriotisch. Der Plot geht nämlich so: Es ist um das Jahr 1860. Sieben republikanisch gesinnte Zürcher Handwerksmeister, allesamt schon etwas in die Jahre gekommen, bilden seit Jahren einen festen Freundeskreis: die “Gesellschaft der sieben Männer, oder der Festen, oder der Aufrechten, oder der Freiheitsliebenden, wie sie sich abwechselnd nannten.[1] Die einzige Tochter eines dieser Aufrechten nun, des reichen und wortgewandten Zimmermeisters Frymann, Hermine, ist in Karl, den Sohn des ebenfalls beredten, aber weniger begüterten Schneidermeisters Hediger verliebt, der auch zu den Aufrechten gehört. Hermine und Karl wollen heiraten, aber ihre freiheitsliebenden Väter beschliessen feierlich, der Verbindung einen Riegel zu schieben. Frymann will nämlich keinen armen Schwiegersohn, und beide wollen ihre alte Freundschaft nicht durch Verschwägerung belasten. Frau Hediger hingegen, Karls Mutter, kann Hermine gut leiden und hätte sie gern als Schwiegertochter. Als der alte Hediger seiner Familie den Beschluss der Väter verkündet, muss sie über die selbstherrlichen Prinzipienreiter, die nichts von Liebe und Familie verstehen, dermassen lachen, dass sie sich fast am Wein verschluckt. Und als Hediger eines Samstagnachmittags nach hause kommt, findet er seine Frau und die “ziervolle verbotene Person”[2] in trauter Einigkeit beim Kaffee sitzen. Frau Hedi-ger hat Salbeiblätter in Teig ausgebacken, dazu gibt es Kirschkonfitüre. Und Hediger, dem es die Sprache verschlägt, muss schliesslich noch einen guten Wein aus dem Keller holen. Sie können sich vorstellen, wie die Geschichte ausgeht: Frau Hediger bekommt ihren Willen, Hermine bekommt Karl. Zwar ist noch etwas mehr nötig als die Daseinskompetenz der Mutter, damit die beiden einander heiraten können, nämlich Karls Schiess- und Redekunst und Hermines Schönheit und Willenskraft. Karl wird nämlich am eidgenössischen Schützenfest in Aarau, wohin die sieben Aufrechten mit einem eigenen Fähnlein gezogen sind, Schützenkönig und rettet überdies durch eine beherzte Stegreifrede vor grossem Publikum die schüchternen alten Männer aus grosser Verlegenheit. Und hätte ihn Hermine nicht mit ihrer Schönheit und ihrem festen Glauben an seine Fähigkeiten beflügelt, er wäre nicht dazu imstande gewesen. Diese Schlussszenen, in denen die Mutter Hediger nicht mehr vorkommt, hätte ich als Gottfried Keller wohl etwas weniger konventionell geschlechtertypisierend geschrieben. Was mich an dieser Geschichte mehr interessiert als das Happy End, ist die meisterhaft unauffällig in Szene gesetzte Daseinskompetenz der Mutter Hediger. Worin besteht sie?

Die Vernunft der Frau Hediger

Frau Hediger kann eine ganze Menge: Sie kann kochen, haushalten und hat vier Söhne gut erzogen. Sie kann aber auch Schiessgewehre zerlegen und wieder zusammenbauen. Das zeigt sich, als sie gegen den Willen ihres starrsinnigen Ehe-manns dem Sohn Karl das väterliche Gewehr ausleiht. Ausserdem kann sie wunderbare Reden halten[3] , sie kann schweigen, lachen, warten, vertrauen und handeln, alles zur rechten Zeit, und so, dass sie selber dabei ihren Spass hat. Ihre Daseinskompetenz aber liegt nicht in den einzelnen Fertigkeiten, sondern in der Kunst, das Gekonnte so einzusetzen, dass das gute Zusammenleben der Menschen ebenso genährt wird wie ihre eigenen Interessen. Frau Hediger verschweigt nicht, dass ihr am Reichtum ihrer künftigen Schwiegertochter gelegen ist. Geld in den Händen vernünftiger Nachkommen bedeutet für sie selbst ein gesichertes Alter und für die Jungen die Möglichkeit, Fähigkeiten sinnvoll zu nutzen und sich “die Welt aufzutun”[4] . Ihr Mann dagegen fürchtet sich vor dem Geld der potentiellen Schwiegertochter, weil er seinem Sohn nicht zutraut, umsichtig damit umzugehen. Frau Hediger konfrontiert ihren Ehemann einerseits direkt mit ihrer Kritik an seiner Aengstlichkeit und hält in diesem Zusammenhang eine wunderschöne Rede. Aber dann wartet sie ab. Sie vertraut, wie Gerda Weiler es ausdrücken würde, auf “die regelnden Kräfte, die den Dingen immanent sind”[5] und behält Recht. Dass sie gegen Ende der Geschichte immer mehr aus dem Blickfeld verschwindet, liesse sich allerdings auch damit erklären, dass Gottfried Keller letztlich doch kein wirkliches Interesse an der Darstellung ihrer Lebenskunst hat. Dazu später mehr. Daseinskompetenz und aktuelle Bildungspolitik Sie werden nun zu Recht einwenden, die Wirklichkeit sei keine Kellersche Idylle. Allzuoft trage in der Realität, wie wir sie erleben, nicht die Daseinskompetenz, sondern die als rechnende Vernunft getarnte Lebensangst den Sieg davon. Man kann das heute ganz gut sehen in einem Bereich, den Sie als Hauswirtschafts- und Handarbeitslehrerinnen nicht nur kennen, sondern von dessen akuten Umstrukturierungen Sie direkt betroffen sind: im Schweizer Bildungswesen. Da beschliessen Leute, die sich “Politiker” nennen, die ich aber eher als Sozialtechnokraten bezeichnen würde, Englisch und Internet sei für junge Menschen bei weitem wichtiger als die Künste des Haushaltens. Warum? Weil “die Wirtschaft” Leute braucht, die fliessend englisch sprechen und ebenso fliessend mit Computern umgehen können. Und wer ist diese “Wirtschaft”, die anscheinend darüber bestimmen darf, was wir können sollen? Nicht etwa eine “Gesamtbezeichnung für alle Massnahmen zur Bedarfsdeckung”[6], wie es im Lexikon heisst, sondern nur ein ganz kleiner Teil aus dieser Gesamtheit. In dieser sogenannten “Wirtschaft”, die sich heute zum alleinigen Massstab der Bildung aufzuschwingen scheint, geht es einzig und allein ums Geldverdienen oder präziser: ums Geldvermehren. Geld bzw. der Zugang zur Geldwirtschaft erscheint als einzig mögliche oder jedenfalls einzig wichtige Existenzgrundlage. Ich behaupte nun ebensowenig wie die Frau Hediger, dass Geld unwichtig ist. Auch Computer sind heute wichtig. Aber dass Menschen, um sinnvoll existieren zu können, mehr und anderes können müssen als die Techniken des Geldverdienens, mehr auch als Schreiben, Lesen, Rechnen, Englisch und Windows, das scheint mir doch offensichtlich zu sein. Warum sollen also solche Lebenskünste im Lehrplan noch weniger Raum haben als bisher? Weil sie immer noch oder wieder als Frauen- und also Privatsache gelten und weiterhin gelten sollen. Zwar ist “Gleichberechtigung” durchaus erwünscht, solange Frauen sich auf dem Arbeitsmarkt clever und schultergepolstert unauffäl-lig verhalten und ihre notwendige Zweitarbeit im Haushalt und in den Beziehungen folgsam aus dem öffentlichen Leben und Sprechen heraushalten. Gleichberechtigung in dem Sinne aber, dass alle notwendigen Kulturtechniken und Daseinskünste gleichermassen geübt, gelernt, tradiert, öffentlich anerkannt, besprochen und bewertet werden sollen, scheint gewissen Leuten lästig zu sein. Denn sie macht den Rechnern, die nur in herkömmlichen Männerwelten zu “denken” verstehen, Angst. Sie ist “zu teuer”. Oder präziser: Sie lässt sich mit einem Kalkül, das nur die Erwerbsarbeit, nicht aber die Privatarbeit zählt – bzw. letztere gar nicht als Arbeit wahrnimmt – nicht erfassen. Deshalb ist es diesem Weltbild zufolge die sauberste Lösung, die Haushaltskunst aus der öffentlichen Schule, in die sie irgendwie versehentlich geraten ist, wieder hinauszusparen. Logi-sche Konsequenz: mehr Englisch, Rechnen, Business und Computer. Und möglichst gar keine Schulfächer mehr, die ir-gendwie daran erinnern, dass Menschen etwas anderes sind als Computerprogramme. Das Andere, das Menschen auch noch sind, werden die Frauen nämlich schon irgendwie in den Griff kriegen, schliesslich haben sie das schon immer gekonnt. Schliesslich war das schwache Geschlecht schon immer stark genug, doppelt und dreifach zu arbeiten, während das starke höchstens mal nebenher einen Krieg führte, wenn das Geldverdienen allein zu langweilig wurde. (Ja ich weiss: ich formuliere überspitzt. Meine Erfahrung sagt mir, dass pointiertes Formulieren oft hilft, die Gedanken zu klären. Wenn ich meine Argumente mit Hilfe einer zugespitzten Situationsanalyse geordnet habe, dann lasse ich mich gern daran erinnern, dass man das Ganze auch differenzierter sehen könnte. Diejenigen, die jetzt finden, ich male sträflich schwarz-weiss, möchte ich deshalb einfach um Geduld bitten. Lassen Sie mich meine Gedanken entfalten und urteilen sie danach, ob es was gebracht hat.) Angesichts dieser Tendenzen im Bildungssystem, die Schulfächer der Daseinskompetenz, wie ich sie einmal provisorisch nennen möchte, einem kurzfristigen Business-Denken zu opfern, scheint sich nun also keine der beiden Strategien der Frau Hediger, weder die direkte Kritik noch das geduldige Zuwarten, als wirksam zu erweisen. Die Dampfwalze der Gleichsetzung von Business und Leben rollt. Und während in Gottfried Kellers Fiction sich am Schluss alles in Wohlgefallen auflöst, scheinen die wirklichen Frauen Hediger von heute nur zwei gleichermassen unattraktive Handlungsmöglichkeiten zu haben: entweder sie reiben sich auf in erbittertem oder bald einmal verbittertem fruchtlosem Widerstand gegen eine übermächtige Maschinerie, oder sie ziehen sich zurück, pflegen die paar Gärtchen, die ihnen noch geblieben sind, überlassen die grosse Welt ihrem Schicksal – und arbeiten natürlich weiterhin heftig daran, dass ihren Ehemännern und Kindern der Lebensmut nicht abhanden kommt. Ja, es stimmt, dass zwischen Realität und Fiktion, zumal zwischen Turbokapitalismus und Romantik ein grosser Unterschied besteht. Dennoch meine ich, dass wir viel gewinnen können, wenn wir beides nicht widerstandslos auseinanderfallen lassen. Denn erstens war ein Mann wie Gottfried Keller auch nicht einfach weltfremd. Und zweitens gibt es auch in der Realität, wenn ich Handeln nicht mit Machen verwechsle, immer mehr als zwei konträre Handlungsoptionen. Eine davon steckt im Titel meines Referates, der nicht einfach “Daseinskompetenz”, sondern “Philosophie der Daseinskompetenz” heisst. Was ist damit gemeint? Ich will es erklären:

Vom stummen Dasein und vom Wert des Sprechens

Es gibt viel Daseinskompetenz in der Welt, zum Glück. Wenn es sie nicht gäbe, wären wir schlechter dran als wir es sind. Viele Männer und Frauen verfügen über entsprechende Fähigkeiten, wobei ich der Wahrheit zuliebe doch sagen will, dass unter den Bedingungen des Patriarchats Männer weniger Gelegenheit hatten, Daseinskompetenz im Sinne der Frau Hediger zu entwickeln. Zu sehr waren die meisten von ihnen damit beschäftigt, “das Ganze” im Griff zu behalten, zu organisieren und zu kontrollieren, Grenzen zu ziehen und ihre männliche Identität als überlegenes Vernunftwesen immer wieder zu beweisen, was viel Kraft und Wortgewalt erfordert. Zu weit entfernt sind viele von ihnen von Wirklichkeiten, die sich nicht mit geradlini-gen Strategien des Machens, sondern oft nur auf Umwegen, durch gekonntes Abwarten und Neubeginnen im richtigen Moment bewältigen oder verwandeln lassen. Dennoch also: es gibt viel Daseinskompetenz in der Welt. Es gibt auch gute Texte von Frauen und Männern über die Kunst, dem guten Zusammenleben zu dienen. Das “Fähnlein der sieben Aufrechten” gehört ganz gewiss dazu. Es gibt auch einige wenige denkerische Ansätze im Umkreis einer Pädagogik der Daseinskompetenz, z.B. bei Heinrich Pestalozzi. Was es hingegen nicht oder viel zu wenig gibt, ist eine Theorie oder Philosophie dieser speziellen Tätigkeitsweise, die ernst nimmt, dass das Patriarchat die Kunst oder die Künste des Alltags systematisch den Frauen übertragen hat, um Männer davon zu entlasten. Weil nun das Patriarchat die Frauen nicht nur mit diesen sogenannt “weiblichen Eigenschaften” betraut hat, sondern ihnen gleichzeitig verboten hat, öffentlich zu denken und zu sprechen, umgeben heute, am Ende des Patriarchats, eine grosse Sprachlosigkeit oder beträchtliche begriffliche Diffusionen diesen Bereich symbolischer Weiblichkeit. Während man für das mit Männlichkeit verknüpfte Agieren in der Oeffentlichkeit eine überwältigende Fülle von Theorie entwickelt hat, scheint Daseinskompetenz einfach da zu sein. Wenn sie in Worte gefasst wird, dann in schillernde, unzusammenhängende: Lebenskunst, Ganzheitlichkeit, Weisheit, Gelassenheit, emotionale Intelligenz, Mystik, Oekologie... Und es gibt viele Leute, vor allem Frauen, die meinen, mehr und anderes sei auch gar nicht nötig. Das Wesen dieser Kunst bestehe vielleicht gerade darin, dass sie sich nicht in fixe Kategorien pressen und zu “grauer Theorie” machen lasse, etwa so, wie der mainstream der neuzeitlichen Philosophie den Begriff der “Vernunft” ins Zentrum gestellt hat und nicht mehr von ihm lasen mag. Man sieht ja, was aus dem Leben wird, wenn man allzuviel Theorie darüber stülpt: die Spontaneität geht verloren, Lebensangst, Gesetzlichkeit, Pedanterie breiten sich aus. Also: lieber nicht zu viel denken, sondern einfach da sein, helfend, nutzbringend und ohne viele Worte zu machen? Obwohl ich den Aberwillen gegen die sogenannte graue Theorie in einem gewissen Sinne ganz gut nachvollziehen kann, bin ich doch dezidiert anderer Meinung: Denn Sprechen gehört zum Menschsein. Zum Mann- und zum Frau-Sein. Und damit meine ich weniger das alltägliche Plaudern über irgendetwas. Ich meine, dass es wichtig ist, zu benennen und einander zu vermitteln, was wir tun und was unser Tun bedeutet, und darauf einige Sorgfalt zu verwenden. Nichts anderes ist “Theorie”. “Theoria” leitet sich vom griechischen Verb “theorein” ab, das “anschauen” bedeutet. Theorie zu bilden, meint also ursprünglich einfach, die Wirklichkeit, die Welt, in der ich mich bewege und auch mich selbst in meinem Leben und Tun genau anzuschauen und passende, stimmende Worte dafür zu finden. Das müssen nicht fixe Kategorien sein, die für immer und ewig dieselben bleiben, aber doch Worte von Gewicht. Und wozu das? Die italienische Philosophin Luisa Muraro sagt: “Damit das Sein nicht im Nichts endet”[7]. Damit unser Tun, unser lebensförderliches Tätigsein, unser Kochen und Zuhören, Streiten und Bügeln, unsere Geduld mit den Kindern und miteinander, unser Nähen und Patchworken, unser Einkaufen und Planen nicht zur Sisyphusarbeit wird. Zu einer unendlichen Mühe, die immer wieder verschluckt wird von den grossen Worten der “Festen und Aufrechten”, die die Welt im Griff zu haben meinen und sich doch immer wieder zuviel zumuten. Sie kennen sie alle, die sieben und viel mehr Aufrechten von heute: diese vielen Männer und wenigen Frauen, die unendliche einschüchternde Reden führen über “wirkliche Notwendigkeiten”, über die eigentlich schwerwiegenden Fragen, über Börsenkurse und Wachstumsraten, Zukunftsprognosen, Standortvorteile und Gesetzeslücken. Und unter all den gewichtigen Worten werkelt der weibliche Sisyphus, der aber eigentlich “nichts wirklich Wichtiges” tut. Ja es stimmt: manchmal würde ich auch am liebsten schweigen und bei mir zuhause, in meiner persönlichen Nische, das Notwendige tun. Aber dann empfinde ich es doch wieder als meine Pflicht und auch Lust, der Wirklichkeit eine bessere Sprache zu geben: eine Sprache, die Wirklichkeit verändert, indem sie richtige Worte setzt. Die Philosophie der Daseinskompetenz Philosophie der Daseinskompetenz zu betreiben heisst also, sich unbeeindruckt vom grossen Gerede und der wirklich grauen Theorie auf die Suche nach guten Worten zu machen, damit das Sein nicht im Nichts endet. Nach Worten nicht für irgendetwas, sondern für dieses Etwas, an das ich mit Hilfe der Frau Hediger eine literarische Annäherung versucht habe. Gottfried Keller ist ein guter Lehrmeister, solange er über die Frau Hediger schreibt. Wo er sie aber aus den Augen oder besser: aus der Feder verliert, in der zweiten Hälfte des “Fähnleins”, müssen wir uns von ihm abwenden. Denn Philosophie der Daseinskompetenz bedeutet, sich eben nicht vom Tun und Sein der Frau Hediger durch “Wichtigeres” ablenken zu lassen. Ich habe mich nun, um mein unbenanntes Etwas ans Licht zu ziehen, provisorisch für den Begriff der Daseinskompetenz entschieden, u.a. deshalb, weil er aus der Haushaltswissenschaft stammt und ich hier zu Lehrerinnen des Haushälterischen spreche. Ein Wissenschaftler und eine Wissenschaftlerin, Rosemarie von Schweitzer und Clemens Geissler, haben ihn im Zusammenhang ihrer Arbeit am 5. Familienbericht der deutschen Bundesregierung in die Welt gesetzt. Zuerst wurde der Begriff vor allem in der Mehrzahl gebraucht: es ging um Daseinskompetenzen als Korrektiv zu den allüberall geforderten Sach- oder Fachkompetenzen, um einzelne Fähigkeiten also, die Menschen brauchen, um ihr alltägliches Dasein sinnvoll zu gestalten. Eine “Daseinskompetenz” ist also zunächst ein Gegenkonzept zur üblichen “Fachkompetenz”. Wer “Daseinskompetenz” sagt, appelliert an die allgemein bekannte Tatsache, dass die menschliche Existenz noch nicht in ihrer ganzen Fülle zur Darstellung kommt, wenn sie in “Fächer” oder “Sachen” aufgeteilt ist. Ein “Fach” ist per Definition ein “Teil von” – Teil eines Schrankes zum Beispiel, Teil eines Lehrplans, Teil der Universität/Universitas. “Dasein” hingegen bezeichnet die Ganzheit unserer Existenz, von der Geburt bis zum Tod, mit allem, was dazugehört: Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter, Krankheit, Gebrechlichkeit, Wachstum, Freiheit und Bedürftigkeit, Stärke, Schwäche, Bezogenheit auf andere und vielem mehr. Rose-marie von Schweitzer drückt es so aus: “In ihnen (den Daseinskompetenzen I.P.) dominieren ... nicht die Fach- und Sachinhalte, sondern die Sinngehalte von Sachen und Zwecken und deren Ansprüchlichkeiten, sozialen Folgen und Wirkungen auf die Kultur und Gesellschaft.”[8] Wenn ich das “Fach” durch das “Dasein” ersetze, den Begriff der “Kompetenz” aber beibehalte, so zeigt sich, dass “Daseinskompetenz” mehr sein will als ein Gegen- oder Komplementärbegriff. In diesem Begriff – jetzt im Singular gebraucht – liegt vielmehr der Anspruch, die Teilbereiche, die Fächer in etwas Weiteres zu integrieren, gleichzeitig aber an der “Kompetenz” festzuhalten. D.h. daran, dass etwas erworben, erlernt, eingeübt werden muss, das sich nicht einfach von selbst versteht. “Kompetenz” leitet sich vom lateinischen Verb com-petere ab, das “zusammentreffen, stimmen, entsprechen, zukommen” bedeutet. Kompetent sein bedeutet also, einer Sache entsprechend handeln zu können, so ins Geschehen einzugreifen, dass “es stimmt”, dass Tun und Sache “zusammentreffen”. Wenn wir von “Fachkompetenz” sprechen, dann ist uns klar, dass diese Fähigkeit, in einem bestimmten Bereich stimmig zu handeln, nicht von selbst entsteht, sondern erlernt wird. Ich muss eine Lehre machen, einen Kurs absolvieren, eine Schule besuchen, um zum Beispiel als Automechaniker, Köchin oder Programmierer fachkompetent zu werden. Beim “Dasein” sehen wir das gewöhnlich anders. Viele verweisen auf “das Elternhaus” oder “die Kinderstube”, manchmal auch auf eine diffuse “Schule des Lebens”, wenn sie sagen sollen, wo wir eigentlich lernen, das Dasein sinnvoll zu gestalten, also z.B. unsere Fachkompetenzen in ein Ganzes einzufügen. Entsprechend wird auch häufig “den Familien” die Schuld zugeschoben, wenn Menschen das Dasein nicht lernen, was ziemlich oft vorkommt. In dieses diffuse Reich der Kinderstuben kann der Begriff der Daseinskompetenz mehr Klarheit bringen, indem er behauptet: Keine menschliche Fähigkeit entsteht einfach von selber, gewissermassen aus der Natur. Alle Kompetenzen erwerben wir, indem andere, zumeist ältere Menschen sie uns vermitteln.

Die eine Welt und die zwei Geschlechter

Mit dieser Behauptung nun stellt der Begriff eine Annahme über die Funktionsweise unserer Welt in Frage, die in den patri-archalen Jahrhunderten, die hinter uns liegen, so selbstverständlich geworden ist, dass sie uns gewissermassen in Fleisch und Blut übergegangen ist: die Annahme nämlich, dass die Welt der Menschen aus zwei Hälften besteht, einer weiblichen und einer männlichen. Dieser Zweiteilung gemäss erwerben planmässig handelnde, sogenannt vernünftige Subjekte in der männlichen, “höheren”, öffentlichen Sphäre ( in die allerdings längst auch Frauen eingedrungen sind) Sachkompetenzen, die sie dann im allgemeinen dazu benutzen, um Geld zu verdienen. In der anderen, der mit “Weiblichkeit” verknüpften Sphäre wird “der Rest” des Daseins erledigt. Hier bestimmen nicht in erster Linie Vernunft und Sachverstand, sondern etwas “Anderes” unser Handeln. Dieses Andere hat verschiedene Namen: Liebe, Mütterlichkeit, Fürsorglichkeit, Beziehung, Empathie... Und es entsteht nicht durch rational gesteuerte Lernprozesse, sondern irgendwie “anders”: durch Natur, Tradition, Instinkt oder wie man diese anonyme Macht, die vor allem in weiblichen Menschen zu wirken scheint, nennen mag, und die als eine Art Ergänzungskraft zu Effizienz, Vernunft, Technik, Oekonomie, Kultur etc. gedacht wird. Diese Vorstellung von den zwei nicht vergleichbaren, aber einander irgendwie ideal ergänzenden, wenn auch deutlich ungleich bewerteten Hälften durchkreuzt der Begriff der Daseinskompetenz, indem er sagt: Es gibt nur eine Welt, auch wenn diese Welt von zwei Geschlechtern und überhaupt von sehr verschiedenen Menschen bewohnt und gestaltet wird. Und diese eine Welt sollten wir heute, nach dem Ende des Patriarchats, so gestalten, dass alle das lernen können, was sie brau-chen, um ein gutes Leben zu führen. Wie aber können wir die zweigeteilte Welt hinter uns lassen und eine bessere Organi-sationsform für das Zusammenleben finden?

Angleichung? Aufwertung?

Es gibt in der Hauswirtschaft und auch in der Frauenbewegung einen Trend, die Denkkonzepte der höherbewerteten männlichen Sphäre zu übernehmen und in die weibliche zu importieren. Das geschieht z.B. dann, wenn wir sagen, Hausfrauen seien eigentlich Managerinnen, wahrscheinlich sogar die besseren, und sie müssten folglich auch entsprechend ausgebildet und bezahlt werden. Diese Methode der Angleichung der vermeintlich niederen an die vermeintlich höhere Hälfte ist naheliegend, denn zum einen braucht es wirklich so etwas wie eine “Aufwertung” traditionell weiblicher Tätigkeitsbereiche, und zum anderen besteht tatsächlich kein Grund, die Künste des Haushaltens gegenüber denjenigen der Oeffentlichkeit gering zu schätzen. Die Methode der Angleichung ans vermeintlich Bessere krankt aber daran, dass der Massstab, den “das Höhere” bietet, nicht mehr taugt, sobald klar ist, dass die beiden Hälften voneinander abhängig sind. Der fachkompetente Mann, den wir zum Massstab erheben, ist nämlich nur ein Teil des Ganzen, er kann nur in Abhängigkeit von der verschwiegenen Hälfte – manchmal sagen wir: von seiner “besseren Hälfte” – das sein, was er ist, und taugt deshalb nicht als Massstab. Wenn wir beschliessen, das Denken in zwei ungleichen Hälften als unangemessen fallen zu lassen, dann müssen wir auch die Mass-stäbe ändern, an denen wir bemessen, was Kompetenz ist. Also: Die Hausfrau ist nicht “ebenso gut wie” der Manager, sondern beide brauchen eine neue Sprache und ein neues Mass für ihr Tätigsein in der Welt. Hier, genau an diesem Punkt, wird die Sache wirklich schwierig, denn jetzt betreten wir Neuland: Woher sollen wir den Massstab für Daseinskompetenz nehmen, wenn das ganze Gebäude, auf das wir unser Denken und Urteilen seit Jahrhunderten stützen, in sich zusammen bricht? Bevor meine Redezeit um ist, fange ich an, mir wenigstens den Anfang eines Weges ins Ungewisse zu bahnen.

Neubenennung des Ganzen: die Arbeit am Symbolischen

In den hinter uns liegenden patriarchalen Jahrhunderten hat also die sogenannt “männliche” Hälfte der Welt die grossen Worte gemacht. Diese grossen öffentlichen Worte prägen unsere Wahrnehmung bis heute. Dieser Weltsicht zufolge bedeu-tet Tätigsein in erster Linie ein planvolles, zielgerichtetes, vernunftgeleitetes Tun. Wenn ich mir diesen planenden Vernunftmenschen, der seit der europäischen Aufklärung unsere Vorstellung von richtiger Menschlichkeit dominiert, bildlich vorstelle, dann sehe ich einen Menschen, der eine Art kompakten Chip in seinem Kopf trägt. Dieser Chip dient als Kommandozentrale für das gesamte Tätigsein, von hier und von nirgends anders aus soll “der Mensch”[9] Projekte entwerfen, die er dann auf einer Zielgeraden zu verwirklichen sucht. Er hat Handwerkszeug dabei in Form von Fachkompetenz, Geld und Macht, und sein erstes Ziel besteht darin, Erfolg zu haben und sich dabei von nichts ablenken zu lassen. Was er tut, betrachtet er als Gegenstand, den man “macht”. Und am liebsten zeigt er am Ende tatsächlich ein sichtbares Produkt vor: eine Brücke, eine Maschine, ein Buch, ein System. Er hat etwas hergestellt, und er ist stolz darauf. In Wirklichkeit funktionieren Menschen auf diese Art und Weise höchstens dann, wenn sie tatsächlich Gegenstände herstel-len, was aber nur einen kleinen Teil des menschlichen Tätigseins ausmacht.[10]
Dieses Modell des planmässigen Herstellens kann nur einen kleinen Teil – ein “Fach” – des menschlichen Daseins sinnvoll abbilden, denn das meiste, was Menschen tun, können sie nicht einfach als einen Gegenstand sauber aus dem Geflecht heraustrennen, das ihr Dasein ist. Alle Menschen sind nämlich von anderen abhängig, verletzlich und bedürftig, egal ob sie Frauen, Männer oder Kinder, alt oder jung, gesund oder krank sind. Nur weil die sogenannt weibliche Hälfte in der patriarchalen Vergangenheit gewissermassen all die soge-nannten “Schwachheiten” des Menschlichen durch ihr zumeist unsichtbares und unbenanntes Tun aufgefangen hat, konnte die Illusion entstehen, Menschen könnten unabhängig werden und ihr Dasein wie eine Sache in den Griff nehmen. Diese Vorstellung vom unabhängigen “autonomen” einzelnen, so unrealistisch sie ist, hat sich nun aber im Patriarchat als Ideal etabliert, an dem zuerst die Männer, inzwischen auch die Frauen ihr Leben ausrichten oder ausrichten sollen. Es ist aber nicht sinnvoll, sich an einem Massstab auszurichten, der sich von der Wirklichkeit entfernt hat. Im Begriff der Daseinskompetenz nun finde ich genau diese Aussage, dass Menschen ein realistisches Mass für ihr Tun brauchen. Zwar befindet sich im Kopf der meisten Menschen tatsächlich so eine Art Zentrale, die wir auch ruhig weiterhin “Vernunft” nennen können. Aber – und dies ist entscheidend – dieser Ausgangspunkt vieler Entscheidungen ist weder unabhängig noch allein noch die Hauptsache. Menschen leben in Beziehungen, sie reagieren ständig auf andere und auf die Umstände ihres Lebens, sie empfinden und haben Gefühle, sie machen Umwege und irren sich, sie sind angewiesen auf Liebe, sie haben unhintergehbare körperliche Bedürfnisse und ein Begehren nach Sinn.

Anknüpfungspunkte

Und glücklicherweise gibt es auch für diese Art, menschliches Dasein und Tätigsein auf den Begriff zu bringen, denkerische Traditionen, an die wir anknüpfen können. Ich weise nur auf drei solcher Traditionen hin, die in der feministischen Theoriebildung heute eine wichtige Rolle spielen:
1. Die politische Denkerin Hannah Arendt hat die grundlegende Beziehungshaftigkeit des menschlichen Daseins im Begriff der “Geburtlichkeit” gefasst. Geburtlichkeit verweist auf die Tatsache, dass alle Menschen (bis heute) ohne Ausnahme in Form einer Beziehung zur Welt kommen. Sie werden nämlich von Müttern geboren, sind zuerst für längere Zeit ganz auf die Vermittlung anderer angewiesen, um in die Welt eintreten zu können und werden niemals im strengen Sinne unabhängig. Wenn wir diese grundlegende Bestimmtheit des menschlichen Daseins in die Mitte unserer Aufmerksamkeit rücken, statt – wie im Patriarchat – den Menschen primär als einen “Sterblichen” zu begreifen, dann nehmen wir auch das menschliche Tun anders wahr: Tätigsein erscheint dann nicht mehr als autonomes Entscheiden und Herstellen , sondern eher als ein Flechten oder Weben: Wenn ich tätig werde, dann webe ich meinen Faden in ein grosses Geflecht, das ich nicht selbst gemacht habe, sondern das schon lange vor mir da war. Mein Faden hat eine unverwechselbare eigene Farbe und Struktur, das heisst: mein Tun ist frei und einzigartig und neu, aber es ist nicht unabhängig, denn ohne das Gewebe der anderen hängt es in der Luft.
2. Frau-Denkerinnen greifen heute auch vermehrt auf die mittelalterliche Frauenmystik zurück: Frauen wie Hildegard von Bingen, Teresa von Avila und viele andere, und auch moderne Mystikerinnen wie etwa Simone Weil begreifen ihr Tätigsein in der Welt nicht als autonomes Entscheiden. Sie beschreiben sich in Abhängigkeit vom Körper, von anderen Menschen, von Ordensregeln, von Geschichte und vor allem von Gott als dem unverfügbaren Sinn des Ganzen. Weil sie in Abhängigkeit frei sind, können sie den Begriff der “Passivität”, den die Moderne gänzlich abgewertet hat, positiv begreifen. Passivität bedeutet, sich den Anstoss zum Handeln von äusseren Notwendigkeiten, vom Sinn, von Gott geben zu lassen. Dieses positive Verständnis von Passivität, das aus der Mystik kommt, scheint mir ein ganz wichtiger Anknüpfungspunkt zu sein, um heute, am Ende des Patriarchats, der scheiternden Idee vom rein vernunftgeleiteten zielgerichteten Handeln ein neues Verständnis von kompetentem Dasein in der Welt gegenüberzustellen.[11]
3. Ein dritter möglicher Anknüpfungspunkt für die Philosophie der Daseinskompetenz , den ich erwähnen möchte, ist die moderne Labyrinthbewegung. Labyrinthe im Sinne dieser Bewegung sind öffentliche Frauenplätze, deren Betreiberinnen inzwischen in mehreren Städten auf eine langjährige Erfahrung mit experimentellen Formen politisch-kultureller Begegnung zurückblicken. Im Bild des Labyrinths, das als begehbarer Platz arrangiert ist, wird sinnbildhaft deutlich, dass der Weg zur Sinn-Mitte über Umwege führt, dass “das Ganze” sich von verschiedenen, aufeinander bezogenen Standpunkten aus verschieden ausnimmt, ohne dass ein Standpunkt dem anderen überlegen wäre. Das Labyrinth, dessen Bedeutung lange auf individuelle Selbstfindungsprozesse beschränkt schien, bekommt in der neueren Labyrinthbewegung eine öffentlich-politische Bedeutung, die denkend weiterzuentwickeln mir zukunftsweisend scheint.[12]
Philosophie der Daseinskompetenz zu entwickeln, heisst also in meinem Verständnis, von solchen Traditionen ausgehend das Ganze von Grund auf neu zu denken. Das ist ein weiter Weg, ein Umweg, lästig vor allem für Leute, die gern möglichst schnell Resultate sehen wollen. Vielleicht geht erstmal einiges drunter und drüber, vielleicht müssen wir uns mit Dingen befassen, die wir uns eigentlich gar nicht zutrauen. Vielleicht dürfen wir auch, wie die Frau Hediger, lachen und abwarten und Verbotenes tun, und dabei unseren Spass haben. Und vielleicht wissen wir zwischendurch nicht mehr, wie wir die Dinge und uns und das, was wir tun, eigentlich nennen sollen. Oder könnten Sie etwa bei der Frau Hediger so einfach entscheiden, ob sie vernünftig oder gefühlsmässig, egoistisch oder altruistisch handelt? Ich nicht. Sie ist eine vernünftig argumentierende, vorausschauende Person, aber sie lässt sich von ihrem Gefühl der Zuneigung zu Karl und Hermine und auch zu ihrem aufrechten Ehemann leiten. Ihr Mann kommentiert ihre kritische Emotionalität seinem Kumpanen Frymann gegenüber so: “Wir müssen aufpassen! ... deine Tochter sitzt in dickster Herrlichkeit bei meiner Alten, und es ist mir ein sehr verdächtiges Getue, du weißt, die Weiber sind des Teufels.”[13] Es ist auch nicht klar, ob Frau Hediger privat oder politisch handelt. Klar hingegen scheint mir, dass Gefühle, Ueberlegungen und Handeln sich in einem ständigen Austausch bewegen und dass es in diesem Austausch keine Ungenauigkeiten gibt. Es muss zusammenstimmen, kom-petent sein. Und eben dies unterscheidet die Lebenskunst der Mutter Hediger vom Handeln der sieben Aufrechten: Die nämlich ziehen grossmächtig zum Schützenfest, bringen dann aber keine öffentliche Rede zustande. Sie geben vor, das Beste für ihre Kinder zu wollen, hören aber nicht hin, wenn die Kinder selbst ihre Wünsche äus-sern. Daseinskompetenz dagegen bedeutet Realismus im Umgang mit den eigenen Fähigkeiten, Abhängigkeiten und Begrenztheiten. Es geht nicht darum, Schuld, Eigeninteressen und Unfähigkeiten zu leugnen, sondern sie mit möglichen Handlungsoptionen, mit der Freiheit also, in ein Gleichgewicht zu bringen. Also zum Beispiel Geld und Business nicht zu verteufeln, sondern an den richtigen Ort zu stellen. Das Geld ist weder ein alles überstrahlendes Ziel im Zentrum der Welt, noch eine Gefahr, vor der man sich hüten muss, sondern ein Mittel, um in Sicherheit und Frieden zu leben und “sich die Welt aufzutun”.

Zurück in die Gegenwart

So, nun habe ich in Ansätzen vor Ihren Augen mit Hilfe der Frau Hediger und Gottfried Kellers die Philosophie der Daseinskompetenz entfaltet. Jetzt werfe ich Ihnen den Ball zu. Das konkrete Problem, mit dem Sie hierher gekommen sind, ist die Reduzierung Ihrer Unterrichtsfächer im Namen einer “wirtschafts”-freundlicheren Schule. Mein Vorschlag ist, dass Sie diese Krise nutzen, um das Ganze neu zu denken. Es geht nämlich nicht nur um die Aufwertung oder Erhaltung bestimmter Schulfächer. Es geht um einen anderen Blick aufs Ganze, um andere Massstäbe und eine andere Ordnung des Bewertens. Wenn Sie so wollen: um ein anderes Menschenbild. Und von diesem Menschenbild der Geburtlichkeit, der Bezogenheit, der Freiheit in Abhängigkeit her wäre nun also auch die Schule mit ihren Lehrplänen und Lernzielen zu gestalten. Das bedeutet nicht einfach, dass Handarbeit und Hauswirtschaft, so wie sie heute sind, ihren Platz in den Lehrplänen behalten. Es bedeutet, dass alle Fächer – von der Mathematik bis zu den “Leibesübungen” – sich um einer lebenswerten Zukunft aller willen[14] an der Philosophie der Daseinskompetenz orientieren. Was Sie, die Handarbeits- und Hauswirtschaftslehrerinnen brauchen, sind nicht massenweise Fortbildungskurse, Therapien und Beratungen, um “mit der Entwicklung Schritt halten zu können”. Was Sie brauchen, ist vielmehr eine klare Sprache, die an die Wurzeln unseres Daseins geht, und der Mut, diese Sprache auch öffentlich und laut so zu benutzen, dass klar wird: es geht um mehr als Interessenvertretung. Es geht ums Ganze dieser Kultur. Der Unterschied zwischen Ihnen und der Frau Hediger ist, dass Ihnen nicht ein Autor die Auflösung der Geschichte in den Schoss legt. Sie haben Ihr Schicksal selber in der Hand, soweit man eben ein Schicksal in der Hand haben kann. Und Sie leben nicht an der Schwelle vom 19. Zum 20., sondern vom 20. zum 21. Jahrhundert. Sie haben alle Rechte, sich zu organisieren, öffentlich zu sprechen, die Medien zu nutzen, Ihr eigenes Denken ins Spiel zu bringen. Machen Sie zugunsten eines guten Lebens für alle von diesen Rechten Gebrauch.

Literatur
Arendt, Hannah. Vita Activa, (1958), Neuausgabe: München 1981
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Hg., Fünfter Familienbericht: Familien und Familienpolitik im
geeinten Deutschland – Zukunft des Humanvermögens, Bonn 1995
Günter, Andrea, Verena Wodtke-Werner Hgg, Frauen, Mystik, Politik in Europa. Beiträge aus Italien, Spanien und Deutschland,
Königstein/Ts. 2000
Keller, Gottfried, Zürcher Novellen. Aufsätze, Zürich 1978
Knecht, Ursula, Zur politischen Bedeutung des Labyrinths. Vortrag im Rathaus von Dresden am 23. März 2000, unveröffent-lichtes
Manuskript
Muraro, Luisa, Die symbolische Ordnung der Mutter, Frankfurt/New York 1993
Praetorius, Ina, Anthropologie und Frauenbild in der deutschsprachigen protestantischen Ethik seit 1949, Gütersloh, 2. Aufl.
1994.
Praetorius, Ina, Eine feministische Definition von Ethik, in: Ulrich Wickert, Das Buch der Tugenden, Hamburg 1995, 131-138.
Praetorius, Ina, Zum Ende des Patriarchats. Theologisch-politische Texte im Uebergang, Mainz 2000
Schweitzer, Rosemarie von, Daseins- und Fachkompetenzen für alle – eine familienbezogene Herausforderung der Ziele
und Inhalte von Bildung, in: HJS(?) (Hg.), Familienorientierung des Bildungssystems, Hannover 1995, 14-19.
Weiler, Gerda, Ich verwerfe im Lande die Kriege. Das verborgene Matriarchat im Alten Testament, München 1983
Krinau, im Oktober 2000, I.P.
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1 Gottfried Keller 1978, 260.
2 Ebd. 286
3 Vgl. ebd. 274f.
4 Vgl. ebd. 275.
5 Gerda Weiler 1984, 371.
6 Art. “Wirtschaft” in: Der Volksbrockhaus, Wiesbaden 1965.
7 Luisa Muraro 1993, 87.
8 Rosemarie von Schweitzer 1995, 15.
9 Zur Gleichsetzung der Konzepte “Mensch” und “Mann” vgl. Ina Praetorius 1994.
10 Zur Unterscheidung von Arbeiten, Herstellen und Handeln vgl. Hannah Arendt 1981.
11 Vgl. hierzu Andrea Günter et al Hg. 2000.
12 Vgl. hierzu Ursula Knecht 2000.
13 Gottfried Keller a.a.O. 287.
14 Vgl. hierzu: Ina Praetorius 1995.